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Deutschlands Industriekrise: Kann sie sich erholen? | Beyond Cost

Geschrieben von Maria Skvoznova | Nov 19, 2025 12:49:07 PM

Deutschland ist nach wie vor die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, doch das Wachstum stagniert, während Wettbewerber voranschreiten. In dieser Episode von Beyond Cost spricht Tset-CEO Sasan Hashemi mit Dr. Andreas Cornet, der über 30 Jahre bei McKinsey die Automobilindustrie beraten hat. Andreas erklärt, warum Deutschlands alte Erfolgsformel nicht mehr funktioniert und erläutert seine "Pivot Germany"-Strategie, um Kapital in zukunftsträchtige Branchen zu lenken und gleichzeitig die Produktivität in bestehenden Sektoren zu steigern.

Dr. Andreas Cornet: Vom Ingenieur zum Strategieberater

Dr. Andreas Cornets Weg in die Strategieberatung war beinahe zufällig. Als ausgebildeter Maschinenbauingenieur an der Technischen Universität Hannover entdeckte er die Unternehmensberatung während eines Workshops als Student: "Ich war so fasziniert von diesem Workshop, dass ich sagte, das ist es, was ich machen möchte. Und ich muss ganz offen sein: Davor wusste ich kaum, was Unternehmensberatung war."

Er trat Mitte der 1990er Jahre bei McKinsey ein und verbrachte die nächsten drei Jahrzehnte in der Automobilbranche. In dieser Zeit durchlebte er die Globalisierung, den Aufstieg Chinas als Fertigungsmacht und die ersten Vorboten der digitalen Transformation. Dr. Cornet hat nie aufgehört, wie ein Ingenieur zu denken:

 

Diese ingenieurmäßige Denkweise (geprägt von systemischem Denken, Ursachenanalyse und pragmatischer Problemlösung) prägt heute seinen Ansatz zu Deutschlands wirtschaftlichen Herausforderungen. Nachdem er als Student ein Softwareunternehmen verkauft und die Transformation der Automobilindustrie von innen miterlebt hat, bringt Dr. Cornet eine seltene Kombination aus technischer Tiefe und strategischer Klarheit in das Gespräch ein.

Das goldene Zeitalter, das keines war

Mit Blick auf 30 Jahre zurück sieht Dr. Cornet ein Muster, das viele in Deutschland übersehen haben, während es geschah:

 

Deutschland wurde die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und blieb es auch, aber diese Stabilität verdeckte eine darunter liegende Stagnation. Während die Zahlen stabil aussahen, verschoben sich die Wettbewerbsregeln unter der Oberfläche:

 

Das Problem mit Dingen, die man anfassen kann

Dr. Cornet bietet eine anschauliche Illustration, wie Deutschlands Wettbewerbsvorteil erodiert ist: die Verschiebung von mechanischer Präzision zu digitaler Differenzierung.

Das geht über technologisches Aufholen hinaus. Die Verschiebung betrifft Geschäftsmodelle, Geschwindigkeit und organisatorische Agilität. Deutsche Hersteller waren exzellent darin, physische Produkte durch inkrementelle Verbesserungen zu perfektionieren. Als die Wertschöpfung sich zu Software, Benutzererfahrung und schneller Iteration verlagerte, funktionierte die alte Erfolgsformel nicht mehr.

Pivot Germany: Eine Strategie für wirtschaftliche Transformation

Dr. Cornet war Teil des Teams hinter der "Pivot Germany"-Initiative, einer umfassenden Reformagenda mit zwei gleichzeitigen Zielen: Ressourcen in zukunftsträchtige Branchen zu verlagern und die Produktivität in bestehenden Sektoren zu steigern. Die Strategie war Teil der McKinsey-Studie: "Wachstumswende – Alle für Aufstieg und Aufstieg für alle". 

Die Verschiebung: In Richtung zukunftsträchtige Branchen

Dr. Cornet identifies several sectors where Germany could build new competitive advantages:

Dazu gehören:

  • Biotechnologie und Biowissenschaften: Nutzung von Deutschlands starker pharmazeutischer und Forschungsbasis

  • KI-Anwendungen: Nicht grundlegende Modelle (wo die USA und China dominieren), sondern angewandte KI in Fertigung, Gesundheitswesen und Logistik

  • Fortgeschrittene Materialien: Aufbauend auf chemischer Ingenieursexpertise

  • Neue Energiesysteme: Von Wärmepumpen bis zur Wasserstoffinfrastruktur

  • Verteidigungstechnologie: Ein Sektor, der seit 2022 verstärkte Investitionen erlebt

Die zentrale Erkenntnis ist, dass Deutschland keine völlig neuen Branchen erfinden muss. Stattdessen muss es Kapital und Talente in Sektoren umlenken, in denen es bereits grundlegende Stärken hat, diese aber nicht effektiv skaliert hat.


Der Aufstieg: Produktivitätssteigerung in bestehenden Branchen

Transformation erfordert mehr als neue Sektoren. Dr. Cornet argumentiert, dass Deutschland gleichzeitig die Produktivität in seinen Kernbranchen verbessern muss:

 

Seine Analyse verweist auf mehrere strukturelle Barrieren: 

  • Fragmentierte Kapitalmärkte: Europäische Kapitalmärkte bleiben national statt wirklich integriert zu sein. Das erschwert es Unternehmen zu skalieren

  • Regulierungslast: Übermäßige Bürokratie verlangsamt Entscheidungsfindung und Innovation

  • Energiekosten: Deutschlands Energiewende hat Kostennachteile geschaffen, ohne die Zuverlässigkeit zu lösen

  • Arbeitsmarktrigidität: Arbeitsschutzgesetze, die in einer stabilen Wirtschaft sinnvoll waren, verhindern jetzt notwendige Umstrukturierungen

Das Innovationsparadox: Europa erfindet, andere skalieren

Eines der frustrierendsten Muster, das Dr. Cornet identifiziert, ist Europas Versagen, seine eigenen Innovationen zu skalieren: "Das Problem ist nicht die Erfindung. Europa ist sehr gut in der Erfindung. Aber wir sind nicht wirklich gut im Skalieren."

Er verweist auf unzählige Beispiele, bei denen europäische Forschung Durchbruchstechnologien hervorgebracht hat, die anderswo (oft in den USA oder China) kommerzialisiert und skaliert wurden. Das Problem liegt im Ökosystem für die Umwandlung von Erfindungen in tragfähige Geschäfte, nicht an Kreativität oder wissenschaftlicher Fähigkeit: 

  • Risikokapital: Europäisches Venture Capital bleibt klein und fragmentiert im Vergleich zu US-amerikanischen und chinesischen Fonds

  • Beschaffungsverzerrung: Europäische Regierungen priorisieren oft nicht europäische Anbieter in ihrer eigenen Beschaffung

  • Regulatorische Reibung: Neue Technologien stehen vor Zulassungshürden, die die Kommerzialisierung verzögern oder verhindern

Ursachendenken vs. oberflächliche Debatte

Eines von Dr. Cornets provokantesten Argumenten stellt die gängige Erzählung in Frage, dass "jeder weiß, was getan werden muss, uns fehlt nur der politische Wille":

 

Das ist eine entscheidende Unterscheidung. Viele politische Debatten in Deutschland operieren auf einer Abstraktionsebene, die echte Lösungen verhindert. Diskussionen über "Rentenreform" oder "Energiewende" bleiben vage, bis jemand das Gespräch auf Spezifika hinuntertreibt: Was genau sind die demografischen Annahmen? Was sind die Kostenstrukturen? Was sind die Kompromisse?

 

Wird Deutschland es schaffen?

Gegen Ende des Gesprächs stellt Sasan die Frage direkt: Werden wir es schaffen?

Dr. Cornets Antwort ist abgewogen, aber optimistisch: "Ja, aber es wird schwierig sein."

Er sieht zwei Voraussetzungen für bedeutsame Veränderung:

  1. Überparteiliche Zusammenarbeit: Eine kleine Gruppe von Führungspersönlichkeiten aus verschiedenen politischen Lagern muss zusammenkommen und sich einig sein, dass der Status quo nicht tragbar ist. Historische Präzedenzfälle wie die Zusammenarbeit zwischen Franz Josef Strauß und Helmut Schmidt (erbitterte politische Gegner, die sich dennoch respektierten) zeigen, dass dies möglich ist.

  2. Elemente direkter Demokratie: Entweder formale Mechanismen (wie das Schweizer Referendumssystem) oder informeller Druck von Bürgern, den Politiker nicht ignorieren können. Wenn die öffentliche Meinung klar und nachhaltig ist, werden selbst widerstrebende Politiker handeln.

Wichtige Erkenntnisse für Führungskräfte in der Fertigung

1. Die Wettbewerbsregeln haben sich grundlegend geändert

Was die deutsche Fertigung 30 Jahre lang erfolgreich machte (mechanische Präzision, inkrementelle Verbesserung, lange Planungszyklen) verschafft in software-definierten, schnell iterierenden Märkten keinen Wettbewerbsvorteil mehr.

2.  Innovation ohne Skalierung ist bedeutungslos

Europas Problem liegt darin, Erfindungen in skalierte Geschäfte umzuwandeln, nicht in der Erfindung selbst. Dies erfordert Kapitalmarktreformen, reduzierte regulatorische Reibung und eine Präferenz für europäische Lösungen in der Beschaffung.

3. Grundursachenanalyse schlägt oberflächliche Debatte

Viele Politik- und Strategiediskussionen operieren drei Ebenen über dem eigentlichen Problem. Gespräche auf Grundursachen herunterzuzwingen ist essentiell für bedeutsame Veränderung.

4. Best Practices existieren, erfordern aber Mut zur Umsetzung

Lösungen für Deutschlands Herausforderungen existieren oft bereits in Nachbarländern. Die Barriere liegt im politischen und organisatorischen Willen, bewährte Modelle zu übernehmen, nicht im Wissen.


Fazit

Dr. Andreas Cornets 30 Jahre in den Schützengräben der Automobilberatung verleihen ihm eine Perspektive, die technische Präzision, strategische Breite und hart erkämpften Realismus verbindet. Seine Botschaft ist realistisch statt pessimistisch. Deutschland und Europa behalten enorme Stärken in Forschung, qualifizierten Arbeitskräften und institutioneller Qualität. Diese Stärken werden nur dann von Bedeutung sein, wenn das System sie in zukunftsträchtige Branchen umlenken und die Produktivität in bestehenden steigern kann.

Das Zeitfenster zum Handeln wird enger. Chinas Automobilindustrie hat Deutschland bereits in Schlüsselsegmenten überholt. Die USA dominieren weiterhin Software und KI. Und Europas interne Debatten über Regulierung, Energie und Fiskalpolitik verbrauchen Energie, die auf Umsetzung gerichtet sein sollte.

Dr. Cornets abschließende Antwort ("Ja, aber es wird schwierig sein") deutet darauf hin, dass das Ergebnis offen bleibt. Mit klarem Denken, Grundursachenanalyse, politischem Mut und der Bereitschaft, von dem zu lernen, was anderswo funktioniert, kann Deutschland seinen Wettbewerbsvorteil zurückgewinnen. Die Frage ist, ob Führungskräfte handeln werden, bevor sich das Fenster schließt.

Die vollständige Episode anhören

Hören Sie die vollständige Episode, um mehr über Dr. Andreas Cornets Erfahrungen bei der Gestaltung von Automobilstrategien, seine Ansichten zum transformativen Potenzial von KI und darüber zu erfahren, warum er glaubt, dass die nächste Generation der Wirtschaftspolitik die Verlagerung in neue Branchen mit der Steigerung der Produktivität in bestehenden verbinden muss.

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