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Deutschlands Automobilkrise: Lehren für Cost Engineering | Tset

Geschrieben von Maria Skvoznova | Dec 3, 2025 1:52:25 PM

 

Wenn sich die Grundlage des Wettbewerbs verschiebt, stehen Unternehmen, die für das alte Spiel optimiert wurden, vor einer schwierigen Wahl. Entweder sie bauen ihre Kostenstrukturen neu auf oder diese werden zu Belastungen. Genau diesen Übergang erleben derzeit einige der weltweit fortschrittlichsten Hersteller.

Betrachten wir Volkswagen. Jahrzehntelang stand deutsche Automobiltechnik für höchste mechanische Präzision. Kostenstrukturen, Lieferketten und Entwicklungsorganisationen wurden darauf ausgerichtet, jedes Detail des Verbrennerfahrzeugs zu perfektionieren. Dann änderten sich die Regeln und Software wurde zum zentralen Differenzierungsfaktor. Vertikale Integration in Elektronik schuf neue Vorteile. Plötzlich wurde die gesamte Infrastruktur, die für mechanische Exzellenz gebaut wurde, zum Nachteil.

Im November 2025 spitzte sich die Krise zu. Der Vorstand verschob die Entscheidung über ein Investitionsprogramm von 11 Milliarden Euro. Nahezu 100 Werke weltweit warteten auf Klarheit über ihre Zukunft. Im Dezember wurde bekannt, dass die Planungsrunde nicht mehr 2025 abgeschlossen werden würde – bereits das zweite Jahr in Folge. Hinter der Krise stehen Pläne zur Schließung von drei deutschen Werken und der Abbau von 35.000 Stellen bis 2030. Die Werkskosten liegen 25 bis 50 Prozent über Ziel, die operative Marge ist auf 2,3 Prozent eingebrochen und damit weniger als halb so hoch wie vorgesehen.

Dr. Andreas Cornet, der über 30 Jahre lang bei McKinsey Automobilhersteller beraten hat, sieht darin mehr als eine brancheninterne Krise. In einer aktuellen Beyond Cost Podcast Folge erklärte er: "Deutschland und Europa waren sehr gut in Dingen, die man anfassen kann. Die Einspritzpumpe, das Getriebe, der Elektromotor, das Fahrwerk. Und heute liegt die Differenzierung im Software Defined Vehicle und damit in etwas, das man nicht mehr wirklich anfassen kann."

Dieses Muster reicht weit über die Automobilbranche hinaus. Wenn Wertschöpfung sich fundamental in Richtung Software, digitale Services oder KI-Fähigkeiten verlagert, werden Kostenstrukturen für physische Produkte zu Nachteilen. Für Cost Engineers bietet die deutsche Automobilkrise ein Fallbeispiel dafür, diesen Wandel rechtzeitig zu erkennen.

Der Erfolg, der zur Falle wurde

Drei Jahrzehnte lang blieb Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Automobilindustrie wuchs beständig im einstelligen Prozentbereich. Diese Stabilität überdeckte ein gefährliches Muster.

 

Die Zahlen wirkten stabil, doch unter der Oberfläche verschoben sich die Wettbewerbsregeln.

Zwischen 2015 und 2025 explodierte der Softwareanteil im Fahrzeug. Die durchschnittlichen Codezeilen stiegen von 100 Millionen auf 650 Millionen. Der Markt für Automotive Software wuchs viermal schneller als der Fahrzeugabsatz. Domain-Controller stiegen von unter 1 Prozent des ECU-Marktes im Jahr 2019 auf prognostizierte 43 Prozent bis 2030.

Deutsche Hersteller perfektionierten mechanische Präzision, während die Wertschöpfung zur Softwareintegration wanderte.

Dinge, die man anfassen kann, und Dinge, die man nicht anfassen kann

Andreas Cornet beschreibt den Wandel sehr anschaulich:

 

Der Wandel geht tiefer als reine Technologie. Er betrifft Geschäftsmodelle, Geschwindigkeit und organisatorische Agilität.

Die deutsche Industrie war stark in perfekter, inkrementeller Weiterentwicklung physischer Produkte. Doch als Wertschöpfung in Software, Nutzererlebnis und schnelle Iterationen wanderte, funktionierte das alte Spielbuch nicht mehr.

 

Das Missverhältnis in der Kostenstruktur

Deutsche Entwicklungsorganisationen wurden darauf ausgelegt, mechanische Komplexität zu optimieren. Cost Engineers spezialisierten sich auf Toleranzen, Materialeigenschaften und Fertigungsprozesse. Zulieferer fokussierten sich auf Präzisionskomponenten.

All das passt nicht mehr, wenn Differenzierung durch Softwarearchitektur, Over-the-Air Updates und digitale Services entsteht.

VWs Softwaretochter Cariad kämpfte jahrelang damit, die digitale Architektur zu liefern, die moderne Fahrzeuge benötigen. Nach Milliardenverlusten kündigte VW den Abbau von 1.600 Stellen bei Cariad an und setzte auf Partnerschaften mit Rivian und chinesischen Firmen. Diese Entscheidung steht für eine Erkenntnis: Die deutsche Ingenieursexzellenz ließ sich nicht schnell genug auf softwaredefinierte Fahrzeuge übertragen.

Auch die Kostenstrukturen folgten diesem Muster. Deutsche Cost Engineers waren weltweit führend in der Optimierung von Werkzeugen, Bearbeitungszeiten und Materialkosten. Diese Fähigkeiten bleiben wichtig, sind aber nicht mehr ausreichend, wenn sich die Stücklisten zunehmend in Richtung Elektronik und Software verschieben.

Wie Erfolg heute aussieht

Während deutsche Hersteller mit der Transformation kämpfen, zeigen Wettbewerber, die von Beginn an für das neue Spiel gebaut wurden, was möglich ist.

Der chinesische Hersteller BYD, der als Batterieproduzent begann, erzielt laut UBS Teardown Analyse einen nachhaltigen Kostenvorteil von rund 25 Prozent gegenüber traditionellen OEMs. Der Vorteil resultiert aus vertikaler Integration, die auf Elektronik und Software ausgerichtet ist statt auf Mechanik.

Während europäische OEMs typischerweise etwa 30 Prozent vertikal integriert sind, fertigt BYD Batteriezellen, Antriebsstränge und Elektronikmodule selbst.

Bei einem EV-Seminar in Japan bauten Fachleute ein BYD Fahrzeug auseinander und stellten die Frage: "Wie kann dieses Fahrzeug so kostengünstig hergestellt werden?" Die Antwort: weniger Teile, integrierte Module mit mehreren Funktionen und eine Konstruktion, die auf die neuen Werttreiber optimiert ist.

Die Lehre ist nicht, China zu kopieren. Die Lehre ist, dass Kostenstrukturen, die für alte Werttreiber optimiert wurden, strukturelle Nachteile erzeugen, die sich nicht durch inkrementelle Verbesserungen lösen lassen.

Über die Automobilindustrie hinaus: Das Muster wiederholt sich 

Dieses Muster zeigt sich in vielen Industrien.

Im Maschinenbau wandert Wertschöpfung zu IoT und Predictive Maintenance.
Medizintechnik differenziert zunehmend über softwaregestützte Diagnostik und Remote Monitoring.
In der Luftfahrt entstehen Leistungsunterschiede zunehmend durch Flugsteuerungssoftware und autonome Systeme.

Die Herausforderung ist universell. Kostenstrukturen, Fähigkeiten und organisatorischer Fokus, die auf eine Form der Wertschöpfung ausgelegt sind, können sich schwer tun, wenn sich diese verschiebt.

 

Was Cost Engineers jetzt tun sollten

Die deutsche Automobilkrise liefert klare Handlungsempfehlungen für Cost Engineers in allen Branchen.

1. Prüfen Sie, wo Wert tatsächlich entsteht

Wenn Ihre Should-Cost-Modelle sich weiterhin auf mechanische Toleranzen konzentrieren, während der Produkterfolg zunehmend durch Software bestimmt wird, analysieren Sie die falschen Bereiche.

Sind Ihre Kostenstrukturen auf das ausgerichtet, wofür Kunden bezahlen?
Wenn BYD Batteriesysteme, Antriebsstränge und Elektronik integriert, reduziert das nicht nur Lieferantenmargen, sondern optimiert systemübergreifend. Ein Vorteil, den traditionelle OEMs ohne strukturelle Veränderungen nicht erreichen können.

Hinterfragen Sie Make-or-Buy Entscheidungen, die zu einer Architektur passen, die möglicherweise nicht mehr existiert.

 

2. Technische Tiefe neu ausbalancieren

Mechanisches Know-how bleibt wichtig. Doch Cost Engineering Teams benötigen gleichwertige Tiefe in den Technologien, die heute differenzieren.

Wenn Software 40 Prozent des Produktwerts ausmacht, aber nur 5 Prozent der Kostenbewertung einnimmt, entsteht ein Risiko.

Wie viele Cost Engineers können Softwareentwicklung, Cloud-Infrastruktur oder KI-Kosten sauber modellieren? Werden diese zu zentralen Kostentreibern, entsteht durch fehlende Expertise ein strategischer Nachteil.

 

3. Benchmarks kritisch prüfen

Viele Should-Cost Modelle basieren auf historischen Vergleichsdaten. Wenn sich die Architektur grundlegend verändert hat, zieht diese Vergangenheit Sie in die falsche Richtung.

Fragen Sie: Vergleichen wir uns mit Wettbewerbern, die dieselben alten Strukturen haben, oder mit jenen, die die Transformation bereits geschafft haben?

 

4. Von benachbarten Branchen lernen

Die Konsumelektronik hat den Übergang von Hardware zu Software vor Jahrzehnten durchlaufen. Welche Kostenmanagementmethoden wurden dort entwickelt, die in der Industrie noch fehlen?

Cornet empfiehlt ein Best-of Benchmark Vorgehen: Lösungen identifizieren, die woanders funktionieren, und sie adaptieren. Dasselbe gilt für Cost Engineering. Wenn Software-Kostenmodelle in Tech funktionieren, können sie auch in der Fertigung funktionieren – oft scheitert es nur an organisatorischer Trägheit.

 

Fazit

Die deutsche Automobilkrise ist ein Warnsignal. Nicht nur für Deutschland, sondern für jede Branche, in der Werttreiber schneller wechseln als Kostenstrukturen sich anpassen. Unternehmen und Cost Engineers, die diese Muster früh erkennen und entschlossen handeln, sichern sich dauerhafte Wettbewerbsvorteile. Wer wartet, bis die Krise unübersehbar wird, hat möglicherweise bereits verloren.

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